Donnerstag, 23. Dezember 2010

Georg Alexander Pick mathematiker

G. PickGeorg Alexander Pick wird am 10. August 1859 in Wien geboren. Er stammt aus einer jüdischen Familie. Sein Vater, Dr. Adolf Josef Pick, ist Vorsteher einer Privatlehranstalt; seine Mutter Josefa eine geborene Schleisinger. Den ersten Unterricht, der den Stoff der Normalschule und der ersten drei Gymnasialklassen abdeckt, erteilt der Vater. Zum Schuljahr 1870/71 tritt Georg Pick in die vierte Klasse des Leopoldstädter Communalgymnasiums (Direktor Pokorny) ein. Nach der 1875 bestandenen Maturitätsprüfung studiert er bis 1879 an der Universität Wien Mathematik und Philosophie. Im Jahr 1876 erscheint seine erste, aber vermutlich fehlerhafte mathematische Veröffentlichung. Im Winter 1879/80 legt er die Lehramtsprüfung in den Fächern Mathematik und Physik mit gutem Erfolg ab.
Am 16. April 1880 beantragt er die Zulassung zur Promotion in Mathematik als Hauptfach und in Philosophie
mit der Dissertation: „Über eine Klasse abelscher Integrale“. Die Arbeit wird von Leo Königsberger (* Posen 15.10. 1837, † Heidelberg 15. 12. 1921) als Erstgutachter und Emil Weyr (* Prag 31. 8. 1848, † Wien 25. 1. 1894) als Zweitgutachter beurteilt: „Wesentlich neu ist die Zurückführung des allgemeinen zur mten Wurzel gehörigen Integrales auf feste Normalformen und die Angabe der Criterien, welche anzeigen, wann Integrale gewisser Gattungen in den allgemeinen Integralen fehlen; endlich wird ein ursprünglich von Hermite für elliptische Integrale gefundener Satz auf die allgemeinen zur mten Wurzel gehörigen Integrale ausgedehnt.“ [Rig]1 Im Anschluß an die Promotion erhält er als Assistent von Ernst Mach (* Turas/Mähren 18. 2. 1838, † Haar bei München 19. 2. 1916) eine Stelle an der noch ungeteilten Karl-Ferdinands-Universität Prag, wohin er 1881 übersiedelt. Nach der Teilung der Universität habilitiert er sich 1882 mit der Arbeit: „Über die Integration hyperelliptischer Differentiale durch Logarithmen.“ 1884/85 verbringt er ein Forschungssemester bei Felix Klein (* Düsseldorf 24.4. 1849, † Göttingen 22. 6. 1925) in Leipzig. 1888 wird er zum a.o. Professor, 1892 als Nachfolger von Heinrich Durège (* Danzig 13. 7. 1821, † Prag 19. 4. 1893) zum o.ö. Professor an der Deutschen Universität Prag ernannt.
In der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Kultur in Böhmen (ab 1924: Deutsche Gesellschaft der Wissenschaften und Künste in der Tschechoslowakischen Republik) ist Moritz Allé (* Baden bei Wien 19. 7. 1837, † Wien 6. 4. 1913) der einzige Fachvertreter der Reinen Mathematik; er wechselt 1896 von der Deutschen Technischen Hochschule Prag an die Technische Hochschule Wien. Gewissermaßen als Nachfolger wird Georg Pick zum ordentlichen Mitglied der Gesellschaft, Abteilung für Wissenschaft gewählt; ein Jahr später wird dieser auch Mitglied der Abteilung für Tondichtung. Im Studienjahr 1900/01 ist er Dekan der Philosophischen Fakultät. 1910 ist er Mitglied der Berufungskommission, die Albert Einstein (* Ulm 14. 3. 1879, † Princeton 18. 4. 1955) auf den umgewidmeten Lehrstuhl für Theoretische Physik (vorher Lehrstuhl für Mathematische Physik) an der Deutschen Universität Prag beruft. Die Hauptrolle in der nur dreiköpfigen Kommission spielt nach [Her] der Experimentalphysiker Anton Lampa (* Budapest 17. 1. 1868, † Wien 28. 1. 1938), das dritte Mitglied ist der Physikochemiker Viktor Rothmund (* München 23. 7. 1870, † Prag 10. 5. 1927); nach [Kow2] ist jedoch Georg Pick die treibende Kraft für die Berufung Einsteins.
Viele Jahre wirkt Georg Pick erfolgreich an der Deutschen Universität Prag. Sein Schriftenverzeichnis umfasst
rund 70 wissenschaftliche Arbeiten und zeigt eine bemerkenswerte Breite; es enthält Beiträge zur Funktionalanalysis, zur Differentialgeometrie, zu elliptischen und abelschen Funktionen, zur Theorie der Differentialgleichungen und auch zur Elementargeometrie. Seine Fähigkeit mit anderen zusammenzuarbeiten zeigt sich in gemeinsamen Veröffentlichungen mit dem Physiker Philipp Frank (* Wien 20. 3. 1884, † Cambridge/Massachussetts 21.7. 1966), dem Nachfolger Einsteins an der Deutschen Universität Prag, und dem Differentialgeometer Wilhelm Blaschke (* Graz 13. 10. 1885, † Hamburg-Eppendorf 17. 3. 1962), der von 1913 bis 1915 als außerordentlicher Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag wirkte. Zu dem ersten Teil „Reine Theorie der Standorte“ (Tübingen 1909) des berühmten grundlegenden Werkes des Volkwirtschaftlers und Soziologen Alfred Weber (* Erfurt 30. 7. 1868, † Heidelberg 2. 5. 1958, 1904 - 1907 Professor in Prag) „Über den Standort von Industrien“ verfasst Georg Pick einen mathematischen Anhang. Seine vielleicht wichtigste Leistung ist jedoch die Entdeckung der verallgemeinerten natürlichen Geometrie. Der von Prag nach Dresden gegangene Kollege Gerhard Kowalewski (* Alt-Järshagen/Pommern 27. 3. 1876, † Gräfelfing bei München 21. 2. 1950) würdigt Picks Werk: „Diese wichtige geometrische Disziplin wurde von G. Pick begründet, dem geistvollen Prager Gelehrten, der zu einer Zeit, als die maßgebenden Mathematiker Deutschlands auf die Lieschen Theorien noch geringschätzig herabblickten, ständig Vorlesungen aus dem Lieschen Ideenkreise hielt. Er hat sich in hervorragender Weise um die Weiterbildung dieser Theorien verdient gemacht, und eine der schönsten Früchte, die er dabei erntete, war seine verallgemeinerte natürliche Geometrie.“ (Vorwort zur zweiten Auflage [Ces]) Eine eigene Monographie widmet Kowalewski „Georg Pick, dem Begründer der allgemeinen natürlichen Geometrie, dem Förderer der Lieschen Theorien in Forschung und Lehre verehrungsvoll zugeeignet in dankbarem Rückblick auf die gemeinsame Tätigkeit an der deutschen Universität zu Prag.“ [Kow1] Georg Picks mathematisches Werk ist bis heute aktuell. Es erscheinen immer wieder Veröffentlichungen, in deren Titel Begriffe wie „Pick matrices“, „Nevanlinna-Pick interpolation“, „Schwarz-Pick lemma“ [Oss] und ähnliche auftauchen. Weiteren Kreisen ist er durch ein „relatively minor, if extremely beautiful“ Ergebnis bekannt geworden, die Picksche Flächenformel für Polygone im Gitternetz: Sind die Eckpunkte eines einfach geschlossenen ebenen Polygones Gitterpunkte (= Punkte mit ganzzahligen Koordinaten) in einem rechtwinkligen Koordinatensystem, so berechnet sich die Fläche F des Polygons zu
F = I + R/2 - 1
wobei I die Anzahl der im Inneren des Polygons liegenden Gitterpunkte bezeichnet und R die Anzahl der auf dem Rand liegenden Gitterpunkte.
F=15 + 6/2 -1 = 17
Dieser Satz beschäftigt nicht nur die hauptamtlichen Mathematiker, sondern auch die Didaktiker und wird gelegentlich schon im 5. Schuljahr unterrichtet2. Zu ihm allein gibt es eine umfangreiche Literatur, von der am Ende nur einige wenige neuere Veröffentlichungen aufgelistet sind. Georg Pick ist nicht nur als Forscher, sondern auch als Lehrer von großer Bedeutung. Von der Klarheit und Verständlichkeit seiner Vorlesungen schwärmen seine Schüler noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein umfangreiches Vorlesungsverzeichnis ist in [Lud] aufgelistet. Er ist der Doktorvater von zwanzig Doktoranden, darunter zwei Doktorandinnen. Sein bedeutendster Schüler ist vielleicht Karl Löwner (* Lana/Böhmen 29. 5 1893, †Stanford/Kalifornien 8. 1. 1968), der im akademischen Jahr 1916/17 mit der Dissertation „Untersuchung über die Verzerrung bei konformen Abbildungen des Einheitskreises (Z)>1, die durch Funktionen mit nicht verschwindender
Ableitung geliefert werden“ promoviert wird; nach der Habilitation in Berlin 1923 und Professuren
in Köln und an der Deutschen Universität Prag verlässt Karl Löwner 1939 das Deutsche Reich und setzt seine Lehr- und Forschungstätigkeit an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten fort: University of Louisville/Kentucky, Brown University Providence/Rhode Island, University of Syracuse/New York und University of Stanford/Kalifornien. Zur Persönlichkeit von Georg Pick macht Gerhard Kowalewski einige Bemerkungen in seinen Lebenserinnerungen [Kow2]: „Pick war eine vornehme Persönlichkeit mit ausgezeichneten Umgangsformen. Er hatte mit drei anderen Professoren, zu denen der Maschinenbauprofessor Camillo Körner gehörte, ein Quartett, das wunderbar spielte. Damals interessierte sich Pick für die Lieschen Theorien und las jedes Semester darüber. … Er setzte in ausgezeichneter Weise die Tradition von Durège fort, des Bücher und Vorlesungshefte in der Seminarbibliothek aufgestellt waren.“ Darüber hinaus gibt es einige Äußerungen aus dem Umfeld von Albert Einstein. Einer von
Einsteins Biographen, der schon genannte Philipp Frank, schreibt: „Von seinen engsten Kollegen fühlte er [Einstein] sich am meisten zu dem Mathematiker Georg Pick hingezogen.“ Etwas Ausführlicheres findet sich in
[Toe]: „So lud ihn [Einstein] eines Tages der Mathematiker Pick zu einer Hausmusik als Mitspieler. Pick spielte als Bratschist im Hausquartett der Familie von Portheim. Die beiden verabredeten also, sich an irgendeiner gelegenen Straßenecke zu treffen, um gemeinsam zu von Portheims zu gehen. Pick war Junggeselle, älter als Einstein. Ungemein korrekt in Kleidung und Haltung. Er war entsetzt, wäre am liebsten nachhause gegangen und nicht mit Einstein gegangen, als er sah, wie dieser zur verabredeten Stunde auf der offenen Straße vor ihn trat, die nackte Geige mit Bogen statt in einem Kasten, wie üblich, sondern in ein blütenweißes Tuch gewickelt. Er ging aber dann doch sauer lächelnd mit und war versöhnt, als dann die ersten Töne aus dieser so unkonventionellen Geige aufklangen.“ Der Beitritt zur Abteilung für Tondichtung der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Kultur in Böhmen ist ein weiterer Beleg für Georg Picks musikalische Interessen und Fähigkeiten. Im Jahr 1929 wird Georg Pick emeritiert und er kehrt in seine Vaterstadt Wien zurück. Die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Kultur in der Tschechoslowakischen Republik führt ihn nun als korrespondierendes Mitglied. Nach der Vereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich im Jahr 1938 zieht er wieder nach Prag. Aber auch das rettet ihn nicht. Ein Jahr später wird er aus der ebengenannten Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Kultur ausgeschlossen und am 13.Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt in Nordböhmen deportiert, wo er vierzehn Tage später, am 26. Juli 1942, verstirbt.

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